Ich wurde am 18.2.1966 als "Nachzügler" in eine Dorfkneipendynastie geboren. Mein Lebensweg stand für meine Familie fest: Wer sonst sollte einmal das Geschäft weiterführen?

Aber zuerst einmal ging ich in die Schule. Während der gesamten 1.Klasse verstand ich nicht wirklich, warum alle anderen artig auf ihren Plätzen saßen. Und woher wussten die, wann sie etwas sagen durften und wann nicht? Sich melden und warten ? Und warum verstanden manche nicht, was die Lehrerin erklärt hatte? Naja, ich wunderte mich auch, warum die das so kompliziert machte, ich hatte tausend Ideen, wie das einfacher zu erklären wäre... So verlief also meine Schulzeit: Etliche Themen ärgerten mich, weil mir nicht klar war, zu welchem Zweck ich das lernen sollte. Ein einziges Fach - Chemie - hasste ich, die unvorhersehbaren Ausbrüche unseres Lehrers und sein offensichtlicher Spaß daran, uns alle einzuschüchtern, machte mich so wütend, dass ich nichts aufnehmen konnte. In den höheren Klassen spielte unsere geplante weitere Entwicklung eine immer größere Rolle für unsere höchst sozialistische Klassenlehrerin. Ich hatte kapitalistische Wurzeln und deshalb erntete ich ein höhnisches Lachen, als ich meinen Berufswunsch zum ersten Mal äußern musste: Kindergärtnerin oder Grundschullehrerin. Als ich nun kein Ziel mehr hatte und auch noch in die Pubertät kam, wurde Schule zur Nebensache und ich gehörte zu denen, die die Lehrer den Jüngeren gerne als negatives Vorbild zeigten. Da machte ich ihnen aber einen Strich durch die Rechnung. Zu meinem Glück schaffte ich es auch ohne große Anstrengung, zum guten Mittelfeld der Klasse zu gehören. Und in meinen schriftlichen Prüfungen schaffte ich durchweg die "1". Außer Schadenfreude nützte mir das aber gar nichts. Mein Schicksal hieß "Gaststättenfacharbeiter", Punkt. Erstes Lehrjahr: Koch. Brötchen schmieren, Rot- und Weißkraut putzen, Unmengen Bratwürste braten, aufwaschen. Zweites Lehrjahr: Kellner. Auch nicht besser. Lehre fertig: So bitte, kochen und kellnerieren könnt ihr ja. Wie jemand in diesem Metier Spaß haben konnte, war mir ein Rätsel. Meine Kündigungen wurden einfach abgelehnt.

Und dann war ich schwanger und ich war mir sicher, dieses Kind alleine erziehen zu wollen. Endlich konnte ich zu einer anderen Arbeit wechseln. Aber so viel besser war das Erstbeste, aber einzig Mögliche auch nicht. Ein Jahr lang saß ich an einer Maschine und presste Metallteile in Plasteteile und dachte so ca. 10 Stunden am Tag darüber nach, warum ich jemals in eine Schule gegangen war. Dann fand ich in einem anderen Betrieb eine Stelle als "Werkstattschreiberin": Anwesenheiten führen, Lochkarten in einen großen Kasten stecken, Dinge durch den Betrieb tragen, langweilen. Aber schon besser. Nach einiger Zeit wurde ein neuer Betriebsteil gebaut und ich begann in einer Küche / Kantine als Sekretärin. Neben dem bisschen Schreibkram saß ich an der Kasse und half überall mit. Das machte schon mehr Spaß.

Dann fiel die Mauer. Mein Sohn war 4 1/2 Jahre alt und ich war überglücklich. Diese Zukunft mit Pionier- und FDJ-Schullaufbahn hatte mir solche Angst gemacht. Jetzt war alles möglich! Juhu!!!

Zuerst mal wurde ich Kurzarbeiter, endlich mal ein bisschen ausruhen. Ich ließ dem Arbeitsamt so lange keine Ruhe, bis ich eine Umschulung zur Industriekauffrau beginnen durfte. Ich war der Meinung, diese Arbeit hatte mir in den letzten Jahren gefallen und ohne Ausbildung würde ich wohl keine Chance in diesem Beruf haben. Mein Sohn und ich hatten gemeinsam unseren ersten Schultag. Meine Umschulung interessierte mich sehr und ich schaffte nach zwei Jahren auch einen guten Abschluss. Mein Sohn hatte keinen guten Start.

Während dieser Zeit lernte ich meinen jetzigen Mann kennen und mein Sohn bekam eine "männliche Bezugsperson". Einfach war es mit diesem Kind nie gewesen, aber jetzt wurden viele Probleme offensichtlich. Die ständigen Beschwerden aus der Schule und die häuslichen Streitigkeiten mit ihm waren für mich nicht mehr auszuhalten, ich ging mit ihm zur Kinderärztin. Ich wusste nicht, wo ich ihn sonst hätte abgeben können... Unser Glück war, dass diese Ärztin uns in ein Sozialpädiatrisches Zentrum nach Reifenstein überwies. Den damaligen Chefarzt kannte sie und erklärte, er kenne sich gut mit dem Hyperaktivitätssyndrom aus, worauf sie bei meinem Sohn tippen würde. Mit der Diagnose kam das Verständnis für die Verhaltensweisen, was mich gleichzeitig sehr traurig - alle Welt inklusive mir hatten ihn immer als schuldig gesehen - aber auch hilflos machte: Wie geht man denn nun mit ihm um?

Eine Freundin machte mich kurze Zeit später auf einen Zeitungsartikel aufmerksam. In Eisenach sollte eine Selbsthilfegruppe für Eltern von hyperaktiven Kindern gegründet werden. Da fuhr ich hin. Neben dem Kennnenlernen anderer trauriger, hilfloser, wütender Mütter erfuhr ich hier auch, dass man mit einer bestimmten Weise Sport zu treiben - der Psychomotorik - den Kindern helfen kann. Um einen Therapeuten nach Eisenach zu holen, musste eine Finanzierung ermöglicht werden. Dazu gründeten wir also einen Verein, ich wurde Schatzmeister (Schließlich bin ich ja Industriekauffrau).

1995 kam unsere Tochter zur Welt und der Verein eröffnete eine Beratungsstelle. Wöchentlich kam der Therapeut und die Hypies hatten "Psychomotorik". Meinem Sohn gefiel das mal mehr und mal weniger, eine Wende bedeutete es für ihn und uns jedenfalls nicht. Die Probleme wurden immer größer, in der Schule verweigerte er fast nur noch, von anderen Kindern wurde er gemobbt und zu Hause war kein vernünftiges Wort mehr mit ihm zu reden. Ich entschied mich für eine stationäre Verhaltenstherapie in einer Klinik in Hildburghausen. Wöchentlich hatte ich nun ein Gespräch mit der Psychologin, die mir Zusammenhänge von Verhaltensweisen erklärte und Möglichkeiten aufzeigte, wie man das beeinflussen kann. Das waren dann unsere praktischen Hausaufgaben für das „Urlaubs“-Wochenende. Nach einem sehr interessanten Dreivierteljahr, in dem wir wirklich hart gearbeitet und vieles im familiären Zusammenleben verändert hatten, kam mein Sohn wieder zurück. Er war kein grundlegend anderer Mensch geworden, aber er verstand uns besser und wir ihn - also verstanden wir uns besser. Probleme waren Anlässe, Lösungen zu finden und nicht, zu streiten. So schaffte er den Abschluss der 10.Klasse und ging für drei Jahre in ein Berufsbildungswerk nach Bayern zur Ausbildung.

1998 ergab sich die Möglichkeit, bei dem von mir mitgegründeten Verein zu arbeiten. Meine Aufgaben umfassten alle Büroarbeiten. Inzwischen wurden neben der Psychomotorik auch Konzentrationstraining in der Einzelförderung und Elternberatung angeboten. Das interessierte mich wirklich sehr.

Ich hatte in Hildburghausen so viel gelernt und wollte dieses Wissen so gerne weitergeben, damit nicht alle Familien so einen Stress haben müssen wie wir. Ich unterhielt mich mit allen, die das wünschten und konnte auch ein bisschen helfen. Mir war schon vorher klar gewesen, dass ich die Möglichkeiten gelernt hatte, die in unserem System funktionierten und dass diese nicht 1:1 auf andere Familien passten. Ich wollte also mehr davon wissen. Durch Zufall erfuhr ich von der Ausbildung zur "Fachkraft für soziale Arbeit" in Mühlhausen. Eigentlich musste jemand, um Sozialpädagogik studieren zu können, das Abitur und einen pädagogischen Grundberuf haben. Da es wohl eine Zeit lang an Sozialpädagogen mangelte, wurde die Fachkraft erfunden. Man musste einen Realschulabschluss und einen Beruf haben und in einer sozialen Einrichtung arbeiten: Jipppiiiii!!! Drei Jahre lang wurde ich nun "berufsbegleitend" zur Sozialen Fachkraft. Ich hatte massenhaft AHA-Erlebnisse und konnte das Gelernte auch gleich praktisch umsetzen. Ich begann, offiziell in der Elternberatung und der Einzelförderung mitzuarbeiten. Ich lernte hilfreiche Programme dafür kennen und verstand deren Hintergründe. Ich variierte diese Programme und half vielen Familien. Es ist unheimlich schön, zuzusehen, wie so ein System sich verändert und alle sich wohler fühlen.

Mit der Zeit mussten wir feststellen, dass immer mehr Kinder nicht "nur" ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom - ADHS (so heißt das Hyperaktivitätssyndrom seit einiger Zeit) hatten und "Oppositionelles Problemverhalten" zeigten, sondern auch aggressiv bis zur Straffälligkeit waren. Wieder kam ein Fortbildungsangebot zum "Antiaggressiviäts- und Coolnesstrainer" (AAC-Trainer) genau richtig. Zwei Jahre lang in jeweils mehrtägigen Treffen lernte ich wieder dazu.

2005 mussten die Beratungs- und Förderstellen der "Elterninititative zur Förderung hyperaktiver Kinder e.V. Eisenach" geschlossen werden. Das ist eine Geschichte für sich...

Anfang 2006 bestand ich die Abschlussprüfung zum AAC-Trainer, absolvierte einen Lehrgang zum Elternkursleiter für das Programm "Starke Eltern - Starke Kinder" des deutschen Kinderschutzbundes und suchte nach neuer Arbeit.
Ich fand sie in Gotha im Institut für pädagogische Förderung.

Mein Aufgabenfeld erweiterte sich im Vergleich zur Arbeit mit ADHS-Betroffenen – nun sollte und wollte ich auch Kinder mit allen möglichen Lernproblemen helfen. Also meldete ich mich zum Fernstudium beim EÖDL (Erster Österreichischer Dachverband Legasthenie) zum Diplomierten Legasthenie- und Dyskalkulietrainer an. Diese Ausbildung ist auch in Deutschland anerkannt, da es hier keine qualitativ vergleichbare Weiterbildungsmöglichkeit gab. Wieder erfuhr ich noch mehr Wissenswertes und Praktisches.

Ab September 2006 bis Mai 2012 war als zunächst als Pädagogische Assistentin, später als Stellvertretende pädagogische Leiterin im IPF Gotha angestellt. Ich förderte Kinder und Erwachsene auf den Gebieten Deutsch / Legasthenie und Mathematik / Dyskalkulie entweder in Verbindung mit oder speziell im Konzentrations- und Lernstrategietraining. Ich begleitete die freien Mitarbeiter des IPF auch mit internen Weiterbildungen, hielt Vorträge für externe Interessierte und beriet auch wieder Eltern.

Nachdem sich die damalige Inhaberin immer mehr aus dem "Tagesgeschäft" zurückgezogen hatte erklärte sie mir 2011, dass sie sich beruflich neu orientiert. Sie wollte das IPF Gotha verkaufen. Nach einigem Überlegen entschloss ich mich, nun auch noch Unternehmerin zu werden. Seit 2012 bin ich also auch die Inhaberin, "führe" nun doch ein "Geschäft".

Mein Berufswunsch ist also doch noch in Erfüllung gegangen! Und sämtliche Umwege haben sich gelohnt, alle Erfahrungen sind mir bei meiner jetzigen Tätigkeit eine große Hilfe.